Vor wenigen Wochen noch als Redakteur in Namibia tätig, finde ich mich plötzlich im verschneiten Stuttgart als PR-Volontär wieder. Den akklimatisierten Newsroom unter der afrikanischen Sonne habe ich gegen eine durchorganisierte Agentur im fortschrittlichen Deutschland eingetauscht. Anstatt bei 30 Grad mit Notizblock und Kamera Lokalnachrichten nachzujagen, beherrschen gezielte Content- und Marketingstrategie meinen Alltag. Doch es ist viel mehr als ein Berufswechsel mit Auslandsumzug. Ich erlebe einen abenteuerlichen Weltenwandel, und fühle mich dabei ein bisschen wie ein Zeitreisender.
Ein Land, wie kein anderes
Namibia, seit 1990 eine unabhängige Demokratie, ist von der Fläche her fast 2,5-mal so groß wie Deutschland, aber äußerst dünn besiedelt: Es zählt weniger als 2,5 Millionen Einwohner, und gerade mal ein Prozent davon sind Deutschnamibier. Das restliche Umfeld ist ethnisch und kulturell divers, die Amtssprache ist Englisch, weit verbreitet sind aber auch Afrikaans, OshiVambo, Otjiherero und Khoekhoegowab.
Die politische und wirtschaftliche Landschaft ist entsprechend überschaubar, aber nicht weniger spannend: Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2019 umgerechnet weniger als 12,4 Milliarden US-Dollar, der Staatshaushalt gerade mal 3,2 Mrd. US-Dollar. Zum Vergleich: Das Videoportal YouTube hat in demselben Jahr 15 Mrd. US-Dollar Umsatz gemacht. Bergbau, Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus sind die bedeutendsten Sektoren der kleinen Ökonomie, doch ein Großteil der Menschen ist auf informelle, subsistenzwirtschaftliche Aktivitäten angewiesen. Die Politik wird derweil von der regierenden Partei dominiert, die unter der Bevölkerung einen geerbten Zuspruch genießt. Viele Entscheidungsträger sind Zeitzeugen, sie waren schon bei der Geburtsstunde des Landes dabei.
Die einzigartige Geschichte Namibias ist hochinteressant, die Vergangenheit aber auch von viel Unrecht, Schmerz und Elend geprägt. Das Schutzgebiet Deutsch Südwest-Afrika war die erste Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Das neue Land lockte einen Siedler-Zustrom an, Zusammenstöße mit der indigenen Bevölkerung waren vorprogrammiert. Es kam zu gewaltsamen Aufständen und blutigen Gefechten, auf die der Kommandeur der Schutztruppe 1904 mit einem Vernichtungsbefehl antwortete – ein Ereignis, das zum Tod zehntausender Herero und Nama führte und 112 Jahre später von der deutschen Bundesregierung als Kriegsverbrechen und Völkermord bezeichnet wurde.
Mit dem Ersten Weltkrieg fiel das Land dann als Mandatsgebiet in die Hände der Südafrikanischen Union, den rassistischen Architekten der autoritären Apartheidpolitik. Jahrzehntelang litt der Großteil der Bevölkerung unter brutaler Unterdrückung und eklatanter Diskriminierung. Der erbitterte Befreiungskampf dauerte an, spitzte sich inmitten des Kalten Krieges zu und fand erst vor drei Jahrzehnten ein Ende, als sich im benachbarten Südafrika ein Regimewechsel anbahnte. Endlich erlangte das Land seine Autonomie. Namibia war geboren.
Journalismus in Namibia
Vertreter der namibischen Presse zu sein, ist vielseitig und unglaublich faszinierend. Die sozioökonomische Entwicklung dieses geschichtsträchtigen Landes zu dokumentieren, den gesellschaftlichen Werdegang aus nächster Nähe und journalistischer Perspektive zu begleiten, ist eine ganz besondere Erfahrung. Und die Arbeit bei der Allgemeinen Zeitung in Windhuk, der ältesten Tageszeitung Namibias und einzigen deutschsprachigen Tageszeitung in Afrika, ist einzigartig. Das Layout wird mit Bleistift auf Papier gezeichnet, die Länge der Beiträge auf dem Taschenrechner berechnet. Gelegentlich müssen analoge Fotos digitalisiert werden und das Wetteramt schickt die Vorhersage immer noch per Fax. Zudem steht sich die Leserschaft sehr nahe, die deutschsprachige Gemeinde ist eng verbunden, um wenige Ecken kennt jeder jeden. Eine noch kleinere Welt im Mikrokosmos, und die über 100 Jahre alte Zeitung in der eigenen Sprache ist eine Institution.
Die Vielfalt an Themen und Aufgaben, um die sich ein Redakteur dieser kleinen Lokalzeitung kümmert, kennt wenig Grenzen. Es gilt alle Aspekte des alltäglichen Lebens in Namibia abzudecken, von Lokalpolitik über Umwelt und Tourismus bis hin zu Kultur und Unterhaltung. An einem Tag über Wirtschaftswachstum, Wilderei und Regenmeldungen berichtet, wird am nächsten einer Gerichtsverhandlung beigewohnt oder ein Tatort besichtigt. Dabei muss stets auf das gesamte Redaktionsteam Verlass sein. Der Zeitdruck ist immer da, die Eigenverantwortung groß und selbstständiges Arbeiten eine Grundvoraussetzung. Gleichzeitig müssen auch mal administrative Aufgaben übernommen, Vertriebsfragen geklärt oder der Internetauftritt gepflegt werden. Jedes Mitglied muss überall einspringen können. Und der direkte, enge Bezug zum Geschehen ist immer gegeben. Zu klein ist der gesellschaftliche Kreis, als dass Teilnahmslosigkeit überhaupt möglich wäre.
Der Journalismus in einem Entwicklungsland verlangt Pflichtbewusstsein und Verantwortung, was bei gezwungener Kompromissbereitschaft zu einem schwierigen Balanceakt wird. Die Wurzeln der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit reichen tief, die Ungerechtigkeit ist groß. Armut, Korruption und Kriminalität sind ein ständiger Begleiter. Technologische Fortschritt ist schwerfällig, Infrastruktur und Investitionsfähigkeit hinken hinterher – besonders in ländlichen Gegenden und vernachlässigten Gebieten. Das öffentliche Bildungswesen ist eine Dauerbaustelle, Gesundheitsvorsorge und Sozialfürsorge reichen nicht aus. Zudem prägen konservative Werte das Gesellschaftsbild. Der Jugendschutz gestaltet sich schwierig, für Frauenrechte muss hart gekämpft werden und Homosexualität wird nicht nur tabuisiert, sondern ist unter Umständen sogar strafbar. Und die politische Opposition? Bisher zu schwach, zersplittert und unerfahren, um den Machthabenden einen bestimmenden Gegenpol zu bilden – entsprechend groß ist der Bedarf einer vierten Gewalt.
Doch die Informationspolitik in Namibia steckt noch in den Kinderschuhen. Die Presse reguliert sich unter schwierigen Umständen vorwiegend selbst. Um dieser Verantwortung nachzukommen, taten sich 2007 Medienhäuser und Journalisten zusammen und gründeten das Redakteursforum, das drei Jahre später eine öffentliche Beschwerdestelle ins Leben rief: den sogenannten Medienombudsman. Im Zuge dessen wurde ein Pressekodex aufgestellt, der sich sowohl an Gesetzesvorgaben als auch an bewährten Idealen orientiert. Dieses Rezept der Selbstkontrolle ist keineswegs perfekt, doch es funktioniert: Im Ranking der Organisation Reporter ohne Grenzen belegte Namibia auch 2020 den ersten Platz in Afrika – ein Kontinent, auf dem Pressefreiheit keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein ebenso wertvolles, wie zerbrechliches Privileg, das behütet werden muss. Das war auch meine Verantwortung.
Schöne neue Welt
Das Leben jetzt in Deutschland, einer hochgeordneten Gesellschaft und modernen Volkswirtschaft, ist eine große Veränderung. Im Kontrast zu Namibia haben Geschichte, Kultur, geografische Lage, Klima und sonstige Einflüsse hier eine komplett andere Welt geschaffen, die unterschiedlicher kaum sein könnte.
Anstatt auf ein Auto angewiesen zu sein, fahre ich mit einem, raffiniert ausgeklügelten, öffentlichen Nahverkehrssystem und bin komplett unabhängig. Moderne Technologie und Vernetzung sind hierzulande nicht nur ein Bestreben, sondern eine wichtige und schneller wachsende Grundlage. Dienstleistungen sind digitalisiert, Vorgänge automatisiert. Was es im nächsten Geschäft nicht zu kaufen gibt, lässt sich im Internet schnell und einfach bestellen. Das Spielfeld ist auf einmal astronomisch, die Anzahl Spieler unzählbar. Das Marktangebot ist schwindelerregend, die Nachfrage scheinbar unersättlich, das System dahinter verblüffend kompliziert und vielschichtig. Es herrscht eine allesdurchdringende Komplexität. Wo vorher viel improvisiert werden musste, gibt es nun durchdachte Ordnungsprinzipien. Probleme und Lösungen beanspruchen eine andere Methodik, ein eigenes Niveau.
Es sind Welten, die zwischen diesen Realitäten liegen, in denen selbst eine Konstante wie die Zeit nicht dieselbe zu sein scheint. Doch auf meiner abenteuerlichen Reise habe ich einen guten Sitzplatz gefunden: Mein neues Arbeitsumfeld ist produktiv und bis ins Detail strukturiert. Die Kollegen sind ambitioniert und versiert, die Rollen klar verteilt. Das Team greift ineinander wie ein Uhrwerk. Der Arbeitsplatz wird so förderlich wie nur möglich gestaltet, denn den Mitarbeitern soll kein Mittel fehlen, der Leistung und Kreativität nichts im Wege stehen. An alles wird gedacht. Liebe zum Detail ist eine ungekünstelte Selbstverständlichkeit. Was vorher- und absehbar ist, wird durchgeplant, Unerwartetes mit Flexibilität und Erfahrung gemeistert. Selbst eine Pandemie kann dieses Gefüge nicht aus der Fassung bringen: Homeoffice funktioniert problemlos, Meetings und Abläufe werden ohne Mühe ins Internet verlagert.
Für die Zukunft bereit, für alles gewappnet und überall ist ein Weg.
So reise ich gern.